Beurteilung der Schweizer Festungen im Jahr 1926

Im Sommer 1926 verfasste Oberst Rebold eine Studie mit dem Titel «Können unsere Festungen nach den Erfahrungen des letzten Krieges ihren Zweck noch erfüllen?» Seine Beweggründe sind im Begleitschreiben an das Militärdepartement dargestellt: «Da allgemein noch die Ansicht herrscht, die Festungen hätten im letzten Kriege vollständig versagt, und deshalb seien die Opfer, welche wir uns mit dem Bau unserer Befestigungen auferlegt haben, vergeblich gewesen, so scheint es mir, es läge doch in allseitigem Interesse, dieser Ansicht entgegenzutreten und sie richtig zu stellen.»

Der erste Teil behandelt die Rolle der Festungen im Ersten Weltkrieg und wird hier weggelassen. Im zweiten Teile, in welchem er «die Schlüsse aus den Kriegserfahrungen auf unserer Festungen gezogen habe, möchte ich natürlich alles weglassen, was als Verletzung militärischer Geheimnisse ausgelegt werden könnte.» Dieser zweite Teil ist eine ausgezeichnete Beurteilung von einem der erfahrensten Schweizer Festungsfachleuten.

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«Können unsere Festungen nach den Erfahrungen des letzten Krieges ihren Zweck noch erfüllen?»

Wenn wir uns nun, auf Grund vorstehender Kriegserfahrungen fragen, ob unsere schweizerischen Befestigungen ihren Zweck noch zu erfüllen vermögen, so können wir darauf folgende Antwort geben; Unsere Festungswerke am Gotthard und bei St. Maurice, deren Erstellung zum grössten Teil in die 1880er und 1890er Jahre des vorigen Jahrhunderts fällt, entsprechen natürlich in vielen Punkten den Anforderungen, welche heutzutage an solche Werke gestellt werden müssen, bei weitem nicht mehr. Zum Glück ermöglichten es aber die Terrainverhältnisse sowohl hier, als auch bei den später erstellten Befestigungen am Simplon und bei Bellinzona, in ausgedehntem Masse Gebrauch vom Kavernenbau zu machen, d.h. die meisten Unterkunftsräume für die Besatzungen der Werke und die unentbehrlichsten Hülfsmittel der Verteidigung unterirdisch anzulegen, mit genügender Felsüberdeckung, so dass auch die schwersten Geschosse der modernen Belagerungsartillerie ihnen nichts anzuhaben vermöchten.

Was nun speziell die Gotthardbefestigungen anbelangt, so darf nicht vergessen werden, dass gerade zu der Zeit, als diese Befestigungen beschlossen worden sind, die Gründe Sätze des Festungsbaues eine vollständige Umwälzung erfahren hatten und in allen Ländern eine grosse Unsicherheit über die Art und Weise, wie die Festungen in Zukunft gebaut werden sollen, herrschte. Zufolge Einführung des Shrapnels und der erreichten Präzision des Bogenschusses auf grosse Distanzen, wurde die Aufstellung der Geschütze auf offenem Walle als nicht mehr zulässig erachtet, und gegen die neuen Minengranaten mit grosser Sprengladung boten die bisher erstellten Eindeckungen nicht mehr genügenden Schutz.

Es tauchten deshalb die verschiedensten Vorschläge auf um der permanenten Befestigung die verlorene Widerstandskraft zurückzugeben und das erschwerte es auch bei uns, die richtige Lösung der Befestigungsfrage zu finden. Die am Gotthard ursprünglich vorgesehenen Erdwerke mussten z.T. durch Panzerwerke ersetzt werden und das erhöhte natürlich die Baukosten in ganz gewaltigem Masse. Man sah sich genötigt, durch Abstriche an sonst als absolut notwendig Erkanntem zu sparen und dadurch wurde der Kampfwert vieler Werke auch entsprechend herabgemindert.

Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass einige dieser Werke einer Beschiessung mit moderner schwerer Artillerie nicht lange würden widerstehen können, allein es dürfte immerhin eine geraume Zeit verstreichen, bis solche Artillerie, mit der benötigten Munitionsmenge, auf günstige Schussweiten in Stellung gebracht werden kann. Vorher müssten vor allem die Befestigungen bei Bellinzona gefallen oder aufgegeben worden sein, und da alle Strassen und Bahnen, welche nach dem Gotthard führen, mehrfach zur Zerstörung vorbereitet sind, so dürfte das Heranbringen schwerer Artillerie auch dadurch noch eine Verzögerung erfahren.

Sollten aber schliesslich auch einige unserer Befestigungswerke in Trümmer gelegt und sowohl die Panzerartillerie als die in offenen Batterien aufgestellten Geschütze niedergekämpft sein, so ist deswegen die Verteidigung des Gotthard noch keineswegs lahmgelegt. Alle diese Werke bilden ja nur Stützpunkte der mobilen Verteidigung, und wenn nun auch einige dieser Stützpunkte ausfallen, so kann in diesem Gelände eine tatkräftige Truppe, auch ohne Artillerieunterstützung, selbst einem an Zahl weit überlegenen Feinde, noch lange Widerstand leisten, denn im Gebirgskriege spielen schliesslich die Maschinengewehre eine viel wichtigere Rolle als die Kanonen. Dem Verteidiger des Gotthard stehen dann immer noch alle diejenigen Befestigungsanlagen und Einrichtungen zur Verfügung, welche ihm den Aufenthalt in diesen unwirtlichen Höhen ermöglichen und rasche Truppenverschiebungen erleichtern, und selbst in zusammengeschossenen Werken kann er oft noch gesicherte Unterkunft finden.

Alle Anlagen, welche hinter Kreten an steilen Hängen liegen, sind der feindlichen Einwirkung so gut wie vollständig entzogen, denn auch die Fliegergefahr braucht am Gotthard nicht hoch eingeschätzt zu werden. Die topographischen und klimatischen Verhältnisse erschweren eben in diesem Gelände die Tätigkeit von Flugzeugen in ganz bedeutendem Masse, und dazu können Flugabwehrgeschütze in grossen Höhen aufgestellt werden, was die Flieger zwingt, so hoch zu steigen, dass Treffer durch Bombenabwurf kaum mehr zu erwarten sind. Dass im Gebirge eine wackere Truppe, auch gegen einen überlegenen Feind, mit Hülfe von selbst veralteten und teilweise zusammengeschossenen Festungswerken, noch lange mit Erfolg Widerstand leisten kann, haben die Kämpfe an der Tiroler- und Dolomitenfront im Jahre 1915 gezeigt. Die Befestigungen am Gotthard dürften deshalb ihren Zweck auch heute noch erfüllen können, sofern deren Werke und ihre Ausrüstung in gehörigen Stande gehalten werden.

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Die Befestigungen von St. Maurice sollen es ermöglichen, mit verhältnismässig schwachen Kräften das Rhonedéfilé bei St. Maurice zu sperren und damit das Debouchieren feindlicher Heere in die schweizerische Hochebene zu verhindern. Ihre Festungswerke sind nun so angelegt, dass sie diese Aufgabe unabhängig von äussern Reserven zu erfüllen vermögen. Sie bilden also nicht, wie beim Gotthard, nur Stützpunkte für eine mobile Verteidigung, sondern sie sind als ein in sich abgeschlossenes Ganzes erstellt, das zur selbständigen Verteidigung befähigt ist. Diese wird dazu noch in ganz besonderem Masse dadurch erleichtert, dass ein Teil der Frontabschlüsse durch hohe Felswände gebildet ist.

Die Fernkampfartillerie ist teils in Panzertürmen, teils in gepanzerten und teilweise auch in offenen Batterien aufgestellt, die alle weit auseinander gelegen sind und in dem gebirgigen und stark bewaldeten Gelände nur schwer auffindbare Ziele bieten, so dass es zu deren Niederkämpfung jedenfalls ganz gewaltiger Munitionsmengen bedürfen würde. Es ist auch kaum anzunehmen, dass der Angreifer dafür gleich die grössten Kaliber wird einsetzen können, denn alle Operationen, welche St. Maurice berühren, werden voraussichtlich doch nur Nebenoperationen sein und für solche ist in der Regel schwerste Belagerungsartillerie nicht verfügbar. Die in Frage kommenden Staaten besitzen solche eben auch nur in beschränkter Zahl, so konnten die Deutschen Namur auch erst angreifen, als ihre 42 cm Haubitzen vor Lüttich frei geworden, und als Namur gefallen war, wurden diese Geschütze vor Maubeuge, und einige Wochen später vor Antwerpen verwendet.

Auch Frankreich, das doch während des Krieges sicherlich keine Ausgaben für die Vermehrung seiner Artillerie scheute, besass nach dem dritten Kriegsjahre erst zwölf Stück 400 mm Haubitzen, die es dann nur zum Angriffe seiner eigenen Forts bei Verdun verwenden konnte. Das Heranbringen eines schweren Belagerungsparkes vor die Befestigungen von St. Maurice kann übrigens, wie am Gotthard, durch die Unterbrechung aller Anmarschstrassen erschwert werden. Könnte aber schwere Artillerie schliesslich doch in Stellung gebracht werden und würde sie unsere sämtlichen Fernkampfgeschütze zum Schweigen bringen, so kann St. Maurice mit seinen Nahverteidigungsmitteln das Defilé immer noch erfolgreich sperren. Selbst wenn einzelne Teile seiner Mauerabschlüsse zusammengeschossen sein sollten, so könnten die entstandenen Breschen, begünstigt durch die Terrainverhältnisse, bald wieder geschlossen werden, und da die Flankenbatterien, welche diese Fronten bestreichen, dem feindlichen Fernfeuer vollständig entzogen sind, so könnten die Breschen auch mit Leichtigkeit nachhaltig verteidigt werden.

Zudem kann selbst ein mit den grössten Kalibern ausgeführtes Bombardement den Besatzungstruppen nichts anhaben, da sie in den zahlreichen unterirdischen Kasernen absolut gesicherte Unterkunft finden. Eine Lahmlegung der Verteidigung durch Vergasung der Befestigungsanlagen kann ebenfalls als ausgeschlossen betrachtet werden, da diese Anlagen an steilen Berghängen liegen und die schweren Giftgase sich hier nicht ausbreiten können, sondern frei ab fliessen würden. Auch von den Fliegern dürfte den Befestigungen von St. Maurice keine grosse Gefahr erwachsen, da die topographischen Verhältnisse, sowie die Möglichkeit, Fliegerabwehrgeschütze auf hohen Punkten aufstellen zu können, einer erfolgreichen Tätigkeit feindlicher Flieger hier ebenso hinderlich sind, wie am Gotthard. Die Befestigungen von St. Maurice werden also ihre Aufgabe ohne Zweifel auch jetzt noch voll und ganz erfüllen können, wenn der Festungskommandant ein energischer und tatkräftiger Offizier ist und die Besatzungstruppen mit den Verteidigungseinrichtungen der Festung vollkommen vertraut sind.

Die Simplonbefestigungen umfassen erstens die Sicherungs- und Zerstörungsvorbereitungen im Simplontunnel, und zweitens die Strassensperre bei Gondo. Die rechtzeitige Sperrung des Simplontunnels hängt einzig und allein von der zweckmässigen Organisation der Zerstörungsvorbereitungen ab. Sie wird deshalb von den während des letzten Krieges erzielten Fortschritten in der Waffentechnik in keiner Weise beeinflusst und alle diesbezüglich getroffenen Vorkehren haben somit auch jetzt noch unverminderten Wert. Aber auch die Strassensperre bei Gondo dürfte ihre Aufgabe nach wie vor erfüllen können. Wenn auch einige Aussenwerke dieser Sperre schwerem Artilleriefeuer wohl bald erliegen würden, so ist dafür das Hauptwerk auch jetzt noch in der Lage, die Simplonstrasse wirksam zu sperren, da es unterirdisch angelegt und dem feindlichen Fernfeuer vollständig entzogen ist. Jedenfalls dürften die bestehenden Befestigungsanlagen es ermöglichen, die Strasse so lange zu sperren, bis wir genügend anderweitige Kräfte zur Verteidigung des Passes herangezogen haben oder wir uns entschlossen haben, den Simplon ganz aufzugeben.

Die Befestigungen von Bellinzona endlich sollen es ermöglichen die nach dem Talkessel von Bellinzona führenden Strassen, in Verbindung mit den Grenzbewachungstruppen, für so lange zu sperren, bis weitere Kräfte ins Tessin geworfen werden können. Die Aufgabe der bei Gordola, bei Magadino und auf dem Monte Ceneri erstellten Werke ist also eine sehr beschränkte, es wird von ihnen nur verlangt, dass sie einem überfallartigen Angriffe wenigstens während einigen wenigen Tagen widerstehen können. So viel Widerstandskraft, auch gegen eine Beschiessung mit schwerer Artillerie, besitzen sie unstreitig auch jetzt noch, denn auch hier sind wesentliche Teile der Werke unterirdisch angelegt und dazu so, dass ihnen durch Fernfeuer nicht beizukommen ist.

Wenn nun aber unsere Hauptkräfte im Norden der Alpen gebunden sein sollten, so könnten unsere Grenztruppen auch mit Hülfe dieser Befestigungen einem stark überlegenen Feinde doch nicht lange widerstehen, und der Abwehrkampf müsste dann im Hochgebirge, gestützt auf den Gotthard, aufgenommen werden. Die Frage, ob unsere Befestigungen am Gotthard, bei St. Maurice am Simplon und bei Bellinzona ihre Aufgabe, nach den Erfahrungen des letzten Krieges, noch zu erfüllen vermögen, darf also zuversichtlich bejahend beantwortet werden. Eine Festung kann aber selbstverständlich ihre Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sie auch richtig verteidigt wird.

Unbezwingbar ist keine Festung; es kommt einfach darauf an, was für Mittel und welche Zeit man auf ihre Bezwingung verwenden kann und will. Stehen diese in einem Missverhältnis zu dem zu erwartenden Erfolge, so kann dadurch der Feind zu andern Massnahmen veranlasst werden und in diesem Falle haben die betreffenden Festungen ihren Zweck schon durch ihr blosses Vorhandensein erfüllt. Auch wir haben unsere Festungen in der Hoffnung gebaut, sie nicht verwenden zu müssen, und es wird wohl kaum bestritten werden können, dass auch sie ihren guten Teil dazu beigetragen haben, dass unser Land unversehrt aus dem Weltkriege hervorgegangen ist. Die Opfer, welche wir uns durch deren Erstellung auferlegt haben, dürften somit nicht vergebliche gewesen sein.

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Die Gesamtkosten aller in den Jahren 1885-1921 erstellten Befestigungen betragen rund 50 Millionen Franken. Auf die 35-jährige Bauzeit verteilt, ergibt das einen durchschnittlichen jährlichen Betrag von nicht ganz 1,5 Millionen Franken oder 4-5 Prozent des gesamten Militärbudgets, welches in dieser Zeitperiode im Mittel 30-40 Millionen betragen hat. Es darf nun wohl behauptet werden, dass diese Aufwendung mindestens dem Zuwachs an Wehrkraft entspricht, den unsere Landesverteidigung durch die Erstellung dieser Festungsbauten erlangt hat.

Vergleicht man übrigens diese Ausgaben mit denjenigen, welche unsere Vorfahren für ihre Städtebefestigung aufgewendet haben,

  • zB. Bern, in den Jahren 1622-1627 ca. 3,5 Millionen Franken
  • zB. Solothurn, in den Jahren 1667-1712 ca. 8 Millionen Franken
  • zB. Zürich, in den Jahren 1642-1677 ca. 10 Millionen Franken
  • zB. Genf, im 18. Jahrhundert ca. 55-60 Millionen Franken.

so können die für unsere Landesbefestigung gebrachten Opfer eher als sehr bescheidene bezeichnet werden. Dass auch in Zukunft kein Staat darauf verzichten wird, Teile seines Gebietes durch permanente Befestigungsanlagen zu sichern, um dafür an anderer Stelle um so stärker auftreten zu können, unterliegt wohl keinem Zweifel. Aus naheliegenden Gründen ist aber kaum anzunehmen, dass unsere Festungen in nächster Zeit eine Ergänzung oder Erweiterung erfahren werden. Um so mehr sollte erwartet werden dürfen, dass man ihnen wenigstens das nicht vorenthält, was unbedingt nötig ist um sie technisch und taktisch auf der Höhe zu erhalten. Wie sehr es sich rächt, wenn in dieser Beziehung gesündigt wird, hat der letzte Krieg in eindringlicher Weise gezeigt.»

In der Realität wurde erst nach 1930 die Festungsbau ernsthaft wieder aufgenommen und es zeigte sich, dass die alten Anlagen kaum mehr von militärischem Wert waren – auch durch die Vernachlässigung seit 1918 begünstigt.

Quelle: Bundesarchiv E5480A#1970-325#377