1940: Sorgen um den Simplontunnel

26.4.1940 – An den Herren Kommandanten des 1. Armeekorps

Betrifft Artilleriewerk Naters

Die Nachrichtenblätter des Armeestabes zeigen deutlich, dass in Italien die Stimmung im Volke sich häufig ändert und dass der Regierung immer wieder andere Absichten unterschoben werden. Jedenfalls geht aus den Nachrichtenblättern hervor, dass es vollständig falsch wäre, zu glauben, Italien denke nur an den Frieden und verfolge rein naheliegende, materielle Ziele. Vielmehr scheint einwandfrei festzustehen, dass die Forderungen Italiens, welche dieses seit dem letzten Weltkrieg an Frankreich und England hat, jedenfalls aufrechterhalten werden. Regierung und Volk sind darin einig, dass die Alliierten ihr gegebenes Versprechen seinerzeit nicht gehalten haben. Für Mussolini scheint der Zeitpunkt nahe, die Verwirklichung dieser Versprechen zu erzwingen.

Wir müssen mehr als je mit einem überraschenden Angriff von seiner Seite rechnen. Wenn man die Methoden studiert, welche die Deutschen bei der Besetzung Norwegens angewendet haben, so muss man die Anwendung ähnlicher Mittel für die Bezwingung der Alpen als äusserst wahrscheinlich annehmen.

In dieser Hinsicht bildet die gefährlichste Stelle im Oberwallis gegenwärtig der Simplontunnel. Gegenwärtig werden die permanenten Ladungen erst angebracht, der Tunnel ist somit noch nicht sprengbereit. Die Bewachung des Nordportals könnte ausserdem niemals verhindern, dass Italiener durch den Tunnel durchfahren und die Sprengung verunmöglichen. Es findet gegenwärtig keinerlei Kontrolle der einfahrenden Züge statt. Diese Kontrolle, welche in der Tunnelmitte vorgesehen ist und für welche die SBB die Signalanlagen erstellten, würde erst auf einen besondern Bundesratsbeschluss durchgeführt. Die Italiener können deshalb ohne weiteres in gewöhnlichen Zügen, auf jeden Fall aber in Panzerzügen, unbemerkt nach Brig fahren. Sind sie einmal in Brig angekommen, würden selbstverständlich die hier stationierten Bestände – selbst wenn sie alarmbereit wären – in keiner Weise genügen, um derartige Detachemente im Schach zu halten, da ja die Zahl der Züge beliebig sein könnte, sobald einmal der erste Zug durchgefahren und die Ausfahrt des Tunnels gesichert wäre.

Die einzige Möglichkeit, einem derartigen Überfall einigermassen entgegenzutreten, bietet dasArt. Werk Naters, das übrigens eigens zu diesem Zweck erstellt wird. Eine Besichtigung des gegenwärtigen Standes der Arbeit zeigte mir aber, lass das Werk noch lange nicht fertiggestellt ist. Wie Ihnen bekannt ist, fehlen noch die beiden Geschütze No. l & 2, die aber nicht für die Beschiessung des Nordportals vorgesehen sind. Die primäre Aufgabe könnte daher auch ohne diese beiden Geschütze erfüllt werden, wobei allerdings zu bemerken ist, dass die Bahnhofanlage Brig nur mit den Geschützen 1 & 2 beschossen werden kann. Ferner fehlt zur Stunde noch das Zielfernrohr.

Infolge der schwankenden Haltung unseres südlichen Nachbarn scheint es mir dringend nötig, dass das Werk beschleunigt fertiggestellt wird und dass es – soweit dies möglich ist – im Notfall verwendet werden kann. Um diese Verwendung, d.h. Beschuss des Nordportals, zu ermöglichen, könnten die beiden fertigen Geschütze behelfsmässig auf diesen Zielpunkt eingestellt und schussbereit gemacht werden. Munition wäre ins Werk zu legen. Von der Beobachterscharte zu den Geschützständen müssten provisorische Verbindungen erstellt werden. Ausserdem muss der in der Besprechung mit Herrn Oberst Peter, BBB, und mit dem Tg. Chef der Armee festgelegte Aussenbeobachter in Werknähe raschestens erstellt werden. Falls die endgültige Ausführung noch längere Zeit auf sich warten lassen sollte, muss eine vorläufige Leitung gezogen werden. Dringend nötig ist die Lieferung des bestellten Tf-Materials für die Aussenbeobachtung und diese Verbindungen. Eine Notverbindung könnte durch Geb. Tg.Kp.11 vorläufig erstellt werden.

Das Werk ist im gegenwärtigen Zustand teilweise bewohnbar; es fehlen aber noch die Schlaf- und Sitzgelegenheiten, die für die reduzierte Werkbesatzung sofort erstellt werden sollten. Ausserdem wären die nötigen Lebensmittelvorräte in das Werk zu verbringen.

Aus den angeführten Gründen erachte ich es als äusserst dringend, dass das Werk sofort in die Lage versetzt wird, wenigstens seine primäre Aufgabe erfüllen zu können, und bitte Sie daher, veranlassen zu wollen,

  • dass das Werk in beschleunigtem Tempo fertiggestellt wird;
  • dass einzelne Wohnräume sowie die beiden Geschütze der Brigade übergeben werden;
  • lass ferner die nötige Munition und die nötigen Lebensmittel im Werk bereitgestellt werden.

Ich beabsichtige, eine reduzierte Werkbesatzung nachher ins Werk zu legen, um sie bei einem Überfall kämpfen zu lassen und um sie ausserdem an den Geschützen auszubilden.

Es scheint mir übrigens durchaus möglich, die Bauarbeiten so zu beschleunigen, dass das Werk in nützlicher Frist fertig wird, unter der Voraussetzung, dass die Unternehmer im durchgehenden Schichtbetrieb und nicht nur im 8-Stundenbetrieb daran arbeiten.

Gebirgs-Brigade 11 – Der Kommandant: Bühler

Quelle: Bundesarchiv

Der Mann in der Mitte: Station in der Mitte des Simplontunnels (aufgenommen irgendwann zwischen 1922 und 1956). Quelle: SBB Generalsekretariat Photo+Filmdienst – Kecko (Flickr)