ERINNERUNGEN DES KALTEN KRIEGERS ADJ BENZ – TEIL 3

Das «Wettrüsten» um die perfekte Führungsanlage

Die Geheimhaltung wurde uns vom ersten Tag an eingehämmert. Bei jeder Gelegenheit, in etlichen Schriftstücken und unzähligen Rapporten fiel ein Satz wie dieser: «Wir verweisen in dieser Sache auf die dringende und unabdingbare Geheimhaltung gemäss der Klassifizierung. Selbst gegenüber Arbeitskameraden, Offizieren und Familienangehörigen gilt Stillschweigen.»

Und das war für die Angehörigen des Festungswachtkorps (FWK) auch kein Problem – im Gegenteil: Es war Teil unserer Daseinsberechtigung, unseres Alltages. Allen war sonnenklar: «Es wird nicht gschnorret!» Punkt.

Als ich in den späten 1960-er/frühen 1970-er Jahre in der Zentralschweiz meine Beamtenkarriere begann, wurden in Zusammenhang mit der Planung und dem Bau von öffentlichen Infrastrukturen (meistens waren es Brücken und Strassentunnels) auch verschiedene militärische Anlagen realisiert. Das war koordiniert und lag auf der Hand: Wenn sich da schon die besten Tunnelbauer mit den modernsten Maschinen durch hochalpines Hartgestein bohren, unter einer schützenden Überdeckung von mehreren hundert Metern, kann gleichzeitig auch eine militärische Anlage gebaut werden. Zwei Fliegen mit einem Schlag. Man muss wissen, dass damals kein einziges grösseres ziviles Baugesuch bewilligt wurde, ohne dass die militärischen Stellen in den Regionen Kenntnis davon, das Projekt «abgesegnet» oder eben daran partizipiert hatten. Die Finanzierung wurde etappiert und unauffällig in den jährlichen militärischen Baubudgets versteckt, meistens unter dem Vermerk «Geländeverstärkungen». Zum Beispiel lautete 1972 die Botschaft für das militärische Baubudget ans Parlament in der entsprechenden Rubrik:

Geländeverstärkungen: In den Botschaften der letzten Jahre betreffend militärische Bauten und Waffenplätze haben wir verschiedentlich auf die Notwendigkeit der Anpassung und Verstärkung unserer Abwehrräume hingewiesen. Die moderne Kriegführung und Kriegstechnik zwingt zu einer grösseren Tiefengliederung der Verteidigungsdispositive durch Errichtung zusätzlicher Geländeverstärkungen, insbesondere von Waffenstellungen sowie von Bauten zum Schutze der Kommandostäbe und Truppen vor der Wirkung der konventionellen und der Massenvernichtungswaffen. Schliesslich bedürfen die durch den Ausbau des Nationalstrassennetzes in erheblichem Masse beeinträchtigten Abwehrdispositive der Anpassung durch den Bau zusätzlicher Verteidigungsanlagen. Die Ausführung dieser Geländeverstärkungen erfolgt etappenweise und wird nach Dringlichkeit gestaffelt.

Die nebulöse Formulierung wurde damals mit keinem Wort hinterfragt – weder von der Politik noch in der Öffentlichkeit – und die Zahlung von 75,5 Millionen Franken bewilligt. Wohlgemerkt: Das war nur für das Jahr 1972.

Ja, ich gebe es zu: Es ist für viele ehemalige FWK-Beamte eine gewisse Genugtuung und spannende Freizeitbeschäftigung, solche und andere Dokumente in öffentlichen Archiven aufzustöbern, nachzulesen und beim geselligen Kameradentreff besprechen und einordnen zu können. Es ist mir in Absprache mit meinen Kameraden auch deshalb ein Anliegen, diese Erinnerungen zu veröffentlichen, weil wir damit keinen Geheimnisverrat begehen, sondern vielmehr Einblick geben in unseren damaligen Alltag zur Zeit des Kalten Krieges. Und ich betone: Alle Auszüge von Dokumenten, die ich hier aufzeige, sind in Archiven der ETH, der Kantone oder des Bundes unklassifiziert für alle einseh- und kopierbar. Bei dieser Gelegenheit bedanke ich mich bei den freundlichen und geduldigen Angestellten des Staatsarchivs Luzern und des Bundesarchivs in Bern.

Doch nun zum Thema: Bei den ganz grossen Projekten von Bund und Kantonen, bei denen sich die Armee zwecks Bau von eigenen Objekten beteiligte, war der Bau des Gotthard-Strassentunnels ab 1969 in jeder Hinsicht bemerkenswert und aussergewöhnlich. Das zeigt sich beim genauen Studium der Baugeschichte des Nordabschnitts von Göschenen her. Ein in jeder Hinsicht sehr delikates und wichtiges sicherheitstechnisches Bauwerk war der Lüftungsschacht Bäzberg mitsamt seinen ober- und unterirdischen Annex-Bauwerken. Das Fachmagazin «Schweizer Ingenieur und Architekt» publizierte 1980 einen umfassenden Bericht zur Baugeschichte. In Heft 36 ist zu lesen:

Offenbar war es in den frühen 1970-er Jahren nicht nur äusserst schwierig, für den geplanten steilen Schrägschacht geeignete Schweizer Tunnelspezialisten zu finden, sondern auch die entsprechenden Maschinen. Denn im Bauprotokoll ist zu lesen:

Was nichts anderes heisst als: Keine Tunnelarbeiter aus Osteuropa im Nordabschnitt. Schon gar nicht im Bereich der Lüftungszentrale Bäzberg! Es ist davon auszugehen, dass hier die militärischen Planstellen auf den Vertrag mit der einheimischen Spezialfirma gepocht haben. Und in diesem Vertrag war mit Sicherheit festgehalten, dass für diese Spezialarbeiten in einem wichtigen Tunnelabschnitt nur Österreicher, Italiener und natürlich Schweizer arbeiten dürfen.

Mehr ist zu diesem «Projekt» nicht beizufügen.

Das Wettrennen um die geschützten Kommandoanlagen

Viel mehr zu berichten gibt es über die intensive Planungs- und Bauzeit früherer unterirdischer Grossanlagen. Es ist äusserst aufschlussreich, die damals geheimen Dokumente, die heute wie erwähnt alle deklassifiziert und einsehbar sind, nachzulesen und zu studieren. Und allen Sitten- und Klassifizierungswächtern hier sei mitgeteilt: Alle Dokumente (auch jene, die mit GEHEIM gekennzeichnet sind) liegen deklassifiziert im Bundesarchiv. Versteht sich wohl von selbst.

Vor allem in den 1950-er Jahren, die geprägt waren von der Angst vor Atomwaffen, entstand eine Art «Ellbögeln» um die strategisch bestgelegenen und bestgeschützten Kommandoanlagen unter Fels. Beteiligt waren dabei nicht nur verschiedene gewichtige EMD-Behörden wie die Kriegstechnische Abteilung (KTA), die Kriegsmaterialverwaltung (KMV) oder das Oberkriegskommissariat (OKK), sondern auch die grossen Heereseinheiten. Sie alle wollten der Luftwaffe in nichts nachstehen, welche damals gerade in atemberaubendem Tempo und mit gewaltigen Millionen-Investitionen ihr ambitiöses, hochmodernes und top-geschütztes Infrastruktur-Bauprogramm (Flugzeugkavernen, unterirdische KPs und Höhenstandorte im Gebirge) realisierte. Geographisch konzentrierte sich dieses «Wettrennen» auf das Aaretal im Berner Oberland und das Urner Reusstal, wie die Akten offenlegen.

Die erwähnte Unterkunftsmöglichkeit war für die Generalstabsabteilung die unterirdische Grossanlage «Eielen» bei Attinghausen, der K7.

Diese mehrteilige  Kaverne wurde gegen Ende des Aktvdienstes geplant und gebaut als unterirdische Werkstatt und Lagerstätte, sie lag in der Verwaltungshoheit der KTA.

Auf der Suche nach neuen geschützten Räumlichkeiten für Teile des Armeekommandos wurden findige Generalstabsleute auf K7 aufmerksam. Sie rekognoszierten, erstellten Pläne und Tabellen, um zu bestimmen, ob und wie Teile des Armeehauptquartiers (AHQ) neben dem KTA-Betrieb einzuquartieren wären.

Bald genügten handgefertigte Skizzen nicht mehr. Die Anlage wurde plantechnisch neu erfasst, und der Teilumbau für Unterkünfte und Büros von Generalstabsstellen ins Auge gefasst.

Bei den Rekognoszierungen und Planstudien eröffneten sich für die Bürolisten grosszügige, neue Dimensionen: Neben den grossen, massiven Kavernenhallen, in die man je drei Etagen einbauen konnte, bot sich auch die Möglichkeit eines wirkungsvollen Krans. Wofür ein solcher Kran in Generalstabsbüros hätte Verwendung finden können, ist unklar. Vielleicht für grosse Kisten mit der Anschrift «La Reserve du Colonel/Lavaux 1948»?

Die Begehrlichkeiten der planenden Generalstabsabteilung, die aus dem Raum Interlaken ins Reusstal schielte, kamen bei der «Hausherrin» KTA schlecht an. Im Bundesarchiv ist ein teils gehässiger Streit und ein unsägliches Hin und Her dokumentiert zwischen den Chefs der KTA, die im K7 weiterhin Reifen lagern, schwere Fahrzeuge montieren und ihren Kriegs-KP behalten wollten, und der Generalität, die eine vortreffliche Möglichkeit sah, neben dem eher beengenden  «Rugenstollen» K4 bei Interlaken in der riesigen Anlage bei Attinghausen einen standesgemässen Ausweich-KP einzurichten.

Ende der 1950-er Jahre jedoch wurden diese Querelen flugs beendet. Erneut war es die Flugwaffe, die allen Beteiligten einen Strich durch die Rechnung machte, indem sie K7 als geradezu idealen Standort für einen KP der neuen Generation deklarierten. Innerhalb weniger Jahre musste die KTA die Anlage räumen und abgeben und keiner aus dem AHQ unternahm weitere Planungsschritte für «Eielen». K7 wurde gänzlich umgebaut, und Mitte der 1960-er Jahre erfolgte der komplexe Einbau der damals hochmodernen Luftraum-Überwachungszentrale «Florida». Und heute wissen wir, dass der Bund diese riesige Unterfelsanlage an eine private Firma verkauft hat, welche dort gesicherte Datenserver und Tresorräume betreibt.

Und der Generalstab? Dieser besann sich für sein neues HQ des grossartigen Mythos «Gotthard». Gewisse Kreise hüten sich auch heute noch davor, den Namen «Teufelswand» in den Mund zu nehmen, dabei ist diese Bezeichnung für die ausgeklügeltste und kühnste Armeeanlage seiner Zeit längst nicht mehr geheim. Denn in ihrer ursprünglichen Funktion und nach damaliger Architektur gibt es die TW heute auch gar nicht mehr.

Aber damals war sie quasi das «Herz und Hirn der Armee».

Die Komplexität der damaligen Anlage ist für heutige Generationen kaum mehr fassbar, und die unten aufgeführten Ausschnitte von Plänen zeigen (bewusst) nur jeweils die Büro-, Unterkunfts- und Spitalbereiche im Haupttrakt. Daneben gab es noch eine grosse Kraftwerk- und Übermittlungszentrale, Gold- und Wertschriftendepots der Nationalbank und eines der grossen Betriebsstoff-Tanklager des Landes – alles unter massivem Gotthardgranit verborgen. Die «Teufelswand», konzipiert und in einer ersten Etappe gebaut in den späten 1930-er Jahren, hat massgeblich zum sagenumworbenen Mythos des unbezwingbaren Reduits beigetragen.

Denn die Dimensionen dieser unterirdischen Militärstadt waren für Schweizer Verhältnisse riesig, wie ein Ausschnitt der Pläne für das dreigeschossige Spital zeigt.

Patienten- und Personalunterkünfte für mehrere hundert Personen, Operations- und Seziersäle, Wasch- und Essräume, Depots und sogar ein grosses Sargmagazin.

Wenn wir alten FWKler ab und zu Gelegenheit haben, uns mit jüngeren Kameraden zu unterhalten, dann ist da stets eine Mischung aus Unglauben und Kopfschütteln dabei. Zweimal pro Nacht eine Patrouille durch die ganze Anlage? «Wottsch mi uf en Arm nä?!» – «24 Stunden Wachtdienst innen und aussen? Sicher ned?!»

Aber sicher. Denn das war damals die perfekte Führungs- und Logistikanlage. Und es war UNSERE Anlage.


Erinnerungen des Kalten Kriegers Adj Benz – Teil 1
Erinnerungen des Kalten Kriegers Adj Benz – Teil 2

Mein Name ist Benz. Adj Benz. Wobei Adj nicht etwa für Adrian steht, sondern für meinen Grad. Meine wahre Identität tut nichts zur Sache. Ich will kein «Gschtürm» mit Medien oder Bundesstellen. Zu meiner Person nur so viel: Ich war fast mein ganzes Berufsleben lang Bundesbeamter, Berufsmilitär, vornehmlich im administrativen Bereich.