ERINNERUNGEN DES KALTEN KRIEGERS ADJ BENZ – TEIL 4
Das Unglück von Göschenen in neuem Licht
Auf die Frage unter uns Gleichgesinnten, woher man denn das alles so genau wisse, folgt häufig die am meisten überschätze Antwort «von einem mir bekannten Festungswächter». Oder noch besser beziehungsweise ungenauer: «Das weiss ich von einem guten Kameraden, der einen pensionierten FWKler gekannt hat …».
Ein beliebtes Kapitel in diesem Forum hier heisst ERINNERUNGEN. Und ich selber habe mich mit bisher zwei Beiträgen daran beteiligt. Um zu verstehen, um was es mir heute geht, empfiehlt sich zuerst die Lektüre meines Kapitels 2; ein Kapitel, das unbedingt ergänzt und aktualisiert werden muss. Und zwar, weil meine eigenen Erinnerungen nicht genau den damaligen Geschehnissen entsprechen. Aber das wurde mir erst kürzlich klar.
Also dann:
Die militärgerichtlichen Fakten zur Explosion von 1973 oder Die Erinnerung ist ein «Souhung»
Erst seit wenigen Monaten sind die vollständigen Akten zum Explosionsunglück vom 11. Juli 1973 in Göschenen im Bundesarchiv zugänglich. Irgendein Interessierter hat sich verdankenswerterweise um die Dokumente bemüht, die 50-jährige Schutzfrist ist ja tatsächlich abgelaufen. Und die Lektüre der Unterlagen ist in vielerlei Hinsicht interessant.
Ich verzichte hier auf die Namen der damals direkt verantwortlichen Kameraden des FWK. Wer sich die Mühe macht, kann dies alles selber in den Dokumenten nachschauen. Einen Namen jedoch möchte ich erwähnen, nämlich jenen des militärischen Untersuchungsrichters. Denn es war der damals junge Urner Anwalt Karl Hartmann, der im Rang einer Hauptmanns die sehr aufwendigen und komplexen, insgesamt über fünf Jahre andauernden militärjuristischen Untersuchungen für das Divisionsgericht 9A geleitet hat. Hartmann wurde später als bisher einziger Urner als Bundesrichter gewählt und verstarb im Jahr 2022 in Altdorf.
Die geheimnisvollen UTAs
Apropos Schutzfrist: Ebenfalls noch nicht lange öffentlich zugänglich sind die Archive zum militärischen Tankbauprogramm der streng geheimen «UTA», also der Unterfelstankanlagen aus den 1950er-Jahren. Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass die damals vom Unglück betroffene UTA IV in Andermatt von Baubeginn an ein grosses Sorgenprojekt war:
- Der exzentrische Standort unter dem Andermatter Bäzberg, in unmittelbarer Nähe der ständig erweiterten und intensiv belegten Anlage «Teufelswand», erschwerte und verzögerte den komplizierten Bau der acht riesigen Felsentanks und ihrer Stollen und Leitzungen massiv.
- Kurz nach Baubeginn in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre «wünschte» das damalige EMD eine Erweiterung der Anlage bis zum Bahnhof Göschenen hinunter. Die Leitungen zum Verladebahnhof (heutiger Baustellenzugang zur zweiten Gotthard-Strassenröhre) sollten in einen begeh- und befahrbaren Stollen verlegt werden. Der Bau dieses rund 2700 Meter langen Stollens, in den über drei Etappen eine kleine Stollenbahn und durchgehende Treppen eingebaut wurden, verteuerte die Kosten um mehrere Millionen Franken und verzögerte die Inbetriebnahme um Jahre. Die UTA IV war mit Abstand die letzte der damals gleichzeitig lancierten fünf Geheimanlagen der Armee, die in Betrieb genommen werden konnte.
Die Resultate der Explosionsuntersuchung
Die mehrjährige militärgerichtliche Untersuchung zur Explosion in der Abfüllanlage «Schöllenenmätteli», die forensisch von Experten des wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich durchgeführt wurde und bei der zwei Zivilpersonen ums Leben kamen sowie mehrere verletzt wurden, kam zu folgenden Ergebnissen:
Plan der Anlage Schöllenenmätteli (BAR)
- Der FWK-Gefreite I.Z. hat am Vormittag vor dem Abfüllvorgang bei der Nische der Verteilbatterie vergessen, ein spezielles Ventil mit Dichtung einzusetzen.
- Wegen der fehlenden Dichtung sind am Nachmittag beim Füllvorgang 28’000 Liter Bleibenzin ausgetreten und in die Stollenanlage geflossen, wo die Gase im Bereich eines elektrischen Niederspannungs-Schaltkastens entzündet wurden.
- Nur durch Zufall, weil ein Abwasserstollen verstopft war, konnte das Benzin nicht in den Gotthard-Scheiteltunnel der SBB fliessen, der unter der Anlage durchführt.
- Die Explosion war gewaltig. Durch die Wucht wurden beide Stahltore der Logistikanlage in Richtung Gotthardstrasse geschleudert und trafen dort auf den VW-Käfer des jungen Ehepaars aus dem Aargau und den Reisecar. Die Reuss geriet wegen des auslaufenden Benzins über mehrere hundert Meter in ein Flammenmeer.
- Im Untersuchungsbericht wurde ein klares Fehlverhalten der beteiligten Festungswächter festgehalten. Allerdings wurde auch bemängelt, dass die Männer keine Kenntnis hatten von der Komplexität der gesamten Anlage. Dass in der Nische für die Verteilbatterie keine übersichtlich dargestellte Planskizze vorhanden war, die den Beamten das System der Leitungen klargemacht hätte, wurde als unerklärlicher Missstand kritisiert. So hält der Untersuchungsbericht zum Hauptangeklagten fest: «Gefr Z. hat sich falsche Vorstellungen gemacht über das Leitungssystem, und sein Vorgesetzter hat das nicht berichtigt.» Hier wurde die Geheimhaltung selbst gegenüber Geheimnisträgern des FWK höher gewichtet als die Sicherheit des Betriebes.
- Schliesslich wurde ebenfalls in Frage gestellt, ob es richtig sei, dass ein Ausgang einer solchen Anlage auf eine häufig befahrene Passstrasse mündet.
Die für alle Reisenden heute noch gut sichtbaren Tore Ost und West der Anlage «Schöllenenmätteli» oberhalb Göschenen UR (Foto: flickr/kecko)
Wer muss den Kopf hinhalten?
Was mir neben den vielen bisher unbekannten Informationen ebenfalls erst heute klar wird, ist der Versuch der Militärjustiz, auch höhere Beamte des Bundes für dieses Unglück zur Verantwortung zu ziehen. Aufgrund der enormen Komplexität und Dimension der Anlage müsse geprüft werden, ob die Frage der Verantwortlichkeit ausserhalb der Militärjustiz «in einem bürgerlichen Strafverfahren» gesucht werden müsse, schreibt der ungeheuer akribische Untersuchungsrichter Hartmann noch im Jahr 1976. Konkret nannte Hartmann die Verantwortlichen der Direktion der Eidgenössischen Bauten, des Eidgenössischen Starkstrominspektorats, der Fachkommission für Tankanlagen des Bundes und der Sektion Tankanlagen des Oberkriegskommissariats OKK.
Denn Hartmann fand einiges heraus, für das die «armen Schlucker der FWK Kp Andermatt» keine Schuld traf:
- An der Anlage UTA IV wurde ständig gebaut, ohne die ausführenden Beamten in Andermatt entsprechend ausführlich zu instruieren. So wurden von den ursprünglich vier Treibstoffleitungen vom Bäzberg hinunter nach Göschenen zwei Leitungen «mit der Zeit undicht», wie es im Bericht heisst. Anstatt diese zu erneuern oder zu reparieren, wurde der ganze Betrieb auf zwei Leitungen reduziert, ohne das Gesamtsystem anzupassen.
- Die letzte Betriebskontrolle in der UTA IV, ihren Leitungen, Stollen und Ventilen fand im Juni 1969 statt. Und das bei einer Anlage, von der sogar die Experten des wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich befanden: «… die Zusammenhänge der ganzen Anlage dürfen als kompliziert bezeichnet werden».
Dennoch wurde 1978 die Administrativuntersuchung im EMD eingestellt und der Antrag des militärischen Untersuchungsrichters Hartmann abgewiesen.
Ein weiterer Kommentar erübrigt sich da, oder?