Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges machten sich verschiedene Schweizer Militärs ihre Gedanken zur weiteren Entwicklung in Europa. Das hier beschriebene Dokument mit Datum 4. Oktober 1946 war als GEHEIM klassifiziert, ist heute im Bundesarchiv aber zugänglich.
Es trägt den Titel «Studie über einen Krieg zwischen den Westmächten und den Russen sowie die Möglichkeiten und Aufgaben der schweizerischen Armee» und zeigt die «Möglichkeiten und Aufgaben unserer Armee in einem Konflikt zwischen einer westlichen Mächtegruppe einerseits und Russland und seinen Trabanten anderseits für den Fall, dass die zweite Mächtegruppe vor Eröffnung der Feindseligkeiten das Gebiet rings um unser Land unter Kontrolle hat und wir keine direkte Anlehnung an die andere Mächtegruppe besitzen».
Die Studie beginnt mit der Ist-Situation
«In der jetzigen Verfassung ist unsere Armee nicht befähigt :
- das feindliche Hinterland oder auch nur die Verbindungen von diesem zur Front mit wirksamem Feuer zu belegen (moderne weitreichende Geschosse oder Bombardierung von Flugzeugen aus u.s.f.),
- in tankgängigem Gelände Angriffe zu führen, weil es uns sowohl an Panzern als an Fliegerschutz als an der nötigen Artilleriemasse fehlt,
- in relativ schlecht tankgängigem Gelände Angriffe von über Regimentsstärke zu führen, weil es am Fliegerschutz fehlt und weil der überlegene und moderne Gegner unseren Bodenraum derart unter Kontrolle hat und mit Feuer aller Arten belegen kann, dass schon die Konzentration einer so starken Angriffsgruppe kaum möglich ist,
- weder im Mittelland noch im Jura oder in den Alpen bei einigermassen sichtigem Wetter Reserveverschiebungen vorzunehmen,
- grosse Reserven gedeckt und verdeckt längere Zeit stationieren zu lassen,
- grosse, zusammenhängende Stellungen auf die Dauer zu halten. Sobald eine solche Stellung erkannt ist, hat der Gegner die Mittel, sie vorgängig dem Angriff derart zu bearbeiten,(vereinzelte vom Gelände besonders begünstigte Teile ausgenommen,) dass der Einbruch gelingen muss, wenn er vom nötigen (und möglichen) Feuer begleitet ist. An den meisten Orten ist es nicht möglich, die Befestigungen derart anzulegen, dass sie nicht vom Gegner schon vorgängig dem Nahangriff mit Feuer zermürbt werden können. Es mag gewisse Linien in unserem Lande geben,- im Jura und in den Alpen, die sich zum Einrichten von Dauerwiderstand eignen. Wenn sie aber nicht schon im Frieden organisiert worden sind,6und dazu fehlen jetzt die Kredite), so reicht es bei Gefährdung der Lage dazu nicht mehr.- Diese Linien fehlen im Mittelland völlig.- Unsere Gewässerufer entsprechen den heutigen Anforderungen an solche Linien nicht. Sie sind zu leicht durch Feuer zu belegen, und sie lassen sich gegen Angriffe feindliche Truppen, die im Rücken gelandet sind, nicht verteidigen. – Es fehlen zur Verteidigung brauchbare Linien, welche die Alpen mit dem Jura verbinden.- (Wollte man den Intervall zwischen Napf und Jura und zwischen Freiburger Voralpen und Neuenburgersee sperren, so würde das je 1 A.K. erfordern, das vielleicht nach einigen Wochen nur durch Fernwirkung, ohne ernstlich angegriffen worden zu sein, derart dezimiert wäre, dass es zur Verteidigung auf die Dauer nicht mehr befähigt wäre.)
- mehr als gewisse Teile unseres Landes zu sichern.- auf den grösseren, ressourcen-, volks- und industriereichsten Teil muss von vornherein verzichtet werden, sowohl bei der Wahl der Orte die man dem Feind nicht über lassen will, als bei derjenigen der Bezirke, in denen man nur hinhaltend kämpfen will.
- grosse Verbände, die aus der Luft im Rücken oder im Innenraum gelandet sind, zu erledigen.
Ergebnis dieser Überlegungen
«Wir dürfen die Entscheidung gar nicht antreten, denn sie könnte zu unseren Ungunsten ausfallen. Es kann nicht auf Sieg ausgegangen werden. Wir müssen neue Wege gehen.
Aufgabe unserer Armee kann in diesem Falle (gleicher Gegner rings um die Schweiz) nur sein:
- Kampf um Zeitgewinn. Wir müssen uns in einem Teil unseres Territoriums behaupten können bis uns von aussen Hilfe wird oder bis der Angreifer wegen Änderung der allgemeinen Lage von uns ablässt. – Der Dauerwiderstand muss mit mindestens einem Jahr rechnen, denn diejenigen, die uns direkt oder indirekt helfen könnten, werden und müssen sich Zeit lassen.
- Abnützung des Gegners und Binden von möglichst vielen seiner Kräfte, (letzteres nur im Falle dass wir auf Hilfe hoffen können.) Je mehr wir uns um die gemeinsame Sache verdient machen durch unsern Widerstand, um so eher wird man uns helfen wollen oder helfen können, und um so gewichtiger können wir beim Friedensschluss mitreden.- Und wenn wir ehrenvoll untergehen, wird das der Welt und selbst dem Gegner grössern Eindruck machen und die Lage unserer Nachkommen besser beeinflussen, als wenn wir feige kapitulieren.
- Abschreckende Wirkung auf Gelüste, uns mit Krieg zu überziehen. Wenn die in Frage kommende Staatengruppe weiss, dass wir verbissen Widerstand leisten werden, dass wir moralisch, materiell und ausbildungstechnisch bestmöglichst vorbereitet sind, und dass in ein Wespennest hineinsticht wer uns angreift (wozu über unserer Kampfart und unserer Deckungsorganisation ein gewisses Geheimnis liegen muss), so wird sie sich den Ueberfall überlegen. Sie wird sich mit der mit der Rechnung beschäftigen, ob er sich lohnt.»
Gedanken zu diesen Vorschlägen
«Erschwerend für uns ist, dass die eben erwähnte Vorbereitung für den Krieg zur Zeit sehr zu wünschen übriglässt. Die Ausbildung stagniert; viele Truppenteile sind mit ihr arg im Rückstand. Die Ausrüstung und Bewaffnung ist vielfach veraltet. Wir haben wohl viele Befestigungen aber wenige, die jetzigen Ansprüchen genügen. Die Wehrkraft ist nicht ausgenützt. In den Beständen klaffen bedenkliche Lücken, während die jungen Leute, die dem Dienst gewachsen wären, die R.S. nicht vorzeitig machen dürfen und man immer noch vielen Leuten die Ausbildung schenkt, (Neuschweizer, Rückwanderer) und auf Nachmusterungen wieder gesund gewordener Leute, die seinerzeit ausgemustert worden sind, verzichtet.- Die Auswanderung hat wieder stark eingesetzt und reist weitere Lücken in die Bestände.
Das homogene Volk von 1939/40 und der einheitliche Widerstandswille sind nicht mehr vorhanden. Die Oeffnung der Grenzen vermehrt die Zahl der Ausländer rapid. Die uns umschliessende Mächtegruppe wird unter den Unsern sehr zahlreiche Sympathien finden, welche in der Armee zersetzenden Einfluss gewinnen könnten. Unter diesen Umständen tut man gut, von unserer Armee nicht zu viel zu verlangen.»
Im Idealfall müsste auch aufgrund von personeller und materieller Ressourcen auf ein Reduit von minimaler Grösse zurückgegangen werden. Und man müsse sich auf Widerstand von langer Dauer einstellen, und nicht disponieren wie im Manöver (es darf nicht mehr vorkommen, dass die Armeereserve nur aus einem Rdf.-Bat. besteht wie 1942 !). «Konsequenterweise müsste für diesen, man kann schon sagen «Verzweiflungskampf» ein so wenig ausgedehntes Reduit gewählt werden, dass der Truppenbestand und -ersatz für Jahre genügen würde, die Lücken an der Front zu füllen. Das hat aber seine Schwierigkeiten und schwerwiegenden Nachteile:
- Je kleiner der von unsern Truppen belegte Raum, um so konzentrierter ist die feindliche Wirkung durch Fernfeuer oder Bombardierung, um so leichter auch die Kontrolle durch die feindlichen Flieger.
- Je enger unser Reduit ist, um so weniger Raum bleibt drin für die Kriegsproduktion und für schwer entdeck- und bombardierbaren Aufenthalt von Reserven, auszubildenden Ersatz, Vorräte, Internierungslager von Gefangenen und Zivilisten, Spitäler, etc.
- Je ausgeprägter das Reduit zwecks Ausnützung schwer gangbaren Geländes ins Hochgebirge verlegt wird, um so kümmerlicher wird der Lebensraum, d.h. der Raum aus welchem Nahrung für Mensch und Tier, Heizmaterial, Ressourcen aller Art gewonnen werden, und in welchem die obgenannten Dinge untergebracht werden sollten.
- Je enger unser Truppendispositiv zusammenschrumpft, um so weniger ist bewegliche Verteidigung möglich, um so weniger kann mit Ueberraschungen gearbeitet werden, umso planmässiger kann der Gegner uns bearbeiten, da wir alle Karten abgedeckt haben.
- Rücksicht auf unsere Fliegerabwehr kann kaum für ein Reduit von minimaler Ausdehnung sprechen, denn auch bei einem solchen kann sie unmöglich alles schützen.
Ob dem Verzweiflungskampf, der den sichern Untergang, die Ausrottung der Nation, die Verwüstung und Verarmung des Landes und die Knechtschaft mit sich bringen würde, nicht ein Eintreten auf die Forderungen des Gegners vorzuziehen ist, in der Hoffnung, dass sich die Zeiten auch wieder ändern werden, geht die Militärs nichts an und muss von den Politikern bzw. vom ganzen Volk beurteilt und beantwortet werden.
Es folgen Vorschläge für die Anpassung der Reduitgrenzen, der unbedingt notwendigen Verstärkung der Festungen Sargans und St. Maurice und Gedanken zur Rolle des Gotthardraumes und vor allem des Wallis. Die nachmaligen Grenzen und Aufstellungen der Grenz-, Festungs- und Reduit-Brigaden sind teils daraus ersichtlich, ebenso eine moderne und realistische Neutralitätsaufstellung bei einer Mobilmachung. Etliche Gedanken wurden aber definitiv nicht umgesetzt.
Grundlagenskizze für die Gedanken im erwähnten Dokument.
Quelle: E27#1000/721#12741* Studie über einen Krieg zwischen den Westmächten und den Russen sowie die Möglichkeiten und Aufgaben der schweizerischen Armee (01.01.1946 – 31.12.1946). Autor unklar.