Erinnerungen aus Sigriswil
Wie die Stimmung kurz nach dem Weltkrieg gewesen ist, zeigt das folgende Beispiel unter dem Titel «Rufst du, mein Vaterland!» eindrücklich. In der historischen Festschrift zum 600-Jahr-Jubiläum der elf Dörfer der Gemeinde Sigriswil im 1947 ist folgendes nachzulesen: «Wenn wir heute, acht Jahre nach beginn des Zweiten Weltkrieges oder zwei Jahre nach Friedensschluss, jemanden fragen, wie es damals gewesen sei, als der Mobilisationsbefehl am 1. September 1939 eintraf, wird er sich lange besinnen müssen und erst allmählich die konkreten Bilder rekonstruieren können, die in seiner nächsten Umgebung abrollten. Jedem wird dabei etwas anderes einfallen, unter Umständen nur ganz Nebensächliches. Mir ist zum Beispiel geblieben das nächtliche Pferdegetrampel auf der Strasse Sigriswil-Gunten, dann das frühmorgendliche Jauchzen der einrückenden Soldaten, ferner wie kurz darauf der frühere Gemeindekassier J.G.Tschan hemdsärmlig von Merligen heraufkam, um den eingerückten Kassier Fritz Graber zu vertreten und wie meine Tochter Regula aus demselben Grund den Briefträger Hans von Gunten ersetzen ging. Man hatte das beruhigende Gefühl, eigentlich klappe alles vorzüglich, und jedermann hätte hinter den Kulissen nur auf das Stichwort gewartet, um seine Pflicht zu tun.
Dann aber ereignete sich nach einem langen «Gewehr bei Fuss», nach jener unheimlichen Zeitspanne des Drôle de guerre der plötzliche Durchbruch der deutschen Heere durch die Maginot-Linie. Unser Land war mit einem Schlage ringsum von den Achsenmächten umklammert. Am 25. Juli 1940 gab General Guisan auf dem Rütli den Befehl, das Vaterland um jeden Preis in den Alpen zu verteidigen (im Reduit). Jetzt strömten nicht nur Regimenter aus dem Unterland in dieses reduit, sondern auch zahlreiche Flüchtlinge aus den Grenzstädten, wie zum Beispiel Basel. Unsere Gemeinde aber wurde zum unmittelbaren Vorgelände des Reduits und dieser Abschnitt dem 16. Gebirgsinfanterieregiment unter Oberst A. Pezolt aus Bern zur Befestigung und Verteidigung zugewiesen. Zum Sitz des Regimentsstabes wurde das Dorf Sigriswil gewählt. Die Batallione 37/38/39 sowie die dem Regiment zugeteilte Artillerieabteilung 9 nahmen in den verschiedenen Dörfern der Gemeinde und Nachbargemeinden Quartier. In fieberhafter Tätigkeit wurde nun Jahre hindurch an der Befestigung des Sigriswiler- und Beatenbergergrates gearbeitet und die Landschaft in einen stacheligen Igel verwandelt. Es entstanden der Durchstich des Schafloches, die Habernlegistrasse, die Tanksperren bei Merligen und die Artilleriestellungen in den Felsen über dieser Ortschaft, um nur die in die Augen springendsten Werke zu nennen.
Diese dauernde Einquartierung sowie der Zustrom von Grenzflüchtlingen bewirkten nun das Gegenteil von dem, was man bei Kriegsausbruch befürchtet hatte. Es trat keine wirtschaftliche Krise, sondern auch für unsere Gemeinde eine Hochkonjunktur ein. Das Baugewerbe hatte sogenannten «Kriegspanik-Chalets» für die Flüchtlinge zu erstellen, die Transportanstalten (die Autoverkehr-AG, das Tram und Camioneure) erfreuten sich der Vollbeschäftigung, die Landwirtschaft der hohen Preise und das Gewerbe lief auf Hochtouren. Das einzige, worüber geklagt wurde, waren die langen und immer wiederkehrenden Ablösungsdienste der waffenfähigen Mannschaft. Diese Schmerzen wurden jedoch durch die geniale Erfindung der Ausgleichskasse gemildert. Ja, man hörte etwa Arbeiterfrauen sagen, sie hätten noch nie mit so sicheren Einnahmen rechnen können, die direkt durch ihre Hände gingen, wie dazumal. Dass Geld verdient wurde, sah man augenfällig zum Beispiel am Verschwinden der Schipfelidächer, die durch Ziegel ersetzt wurden, an zahlreichen Häuserrenovationen und Erneuerungen des Betriebsinventars.
Es war deshalb kein Wunder, dass sich das Verhältnis zwischen «Haus und Heer» trotz vieler unvermeidlicher Unzukömmlichkeiten, welche eine so lange Einquartierung mit ich bringen musste, zu einem herzlichen gestaltete. Am Käseteilet im Justistal (September 1944) nahmen mehr Soldaten teil als Bauern, und man sah unter den Feiernden gar den Divisionär Flückiger mit anderen höheren Offizieren. Selbst der General liess es sich nicht nehmen, das Regiment in Sigriswil persönlich zu inspizieren und fand dabei so grossen Gefallen an der Gegend, dass er für seine Gemahlin in Stalden eine Ferienpension aussuchte. Von seinem Hauptquartier in Interlaken ist er dann noch öfters hier heraufgestiegen. Das gute Verhältnis zwischen Militär und Zivilbevölkerung fand auch in den Augustfeiern, besondern im Jahre 1940, wo die Brandfackeln durch Stafetten direkt vom Rütli her entzündet wurden, ergreifenden Ausdruck. Niemals hat man das «Rufst du, mein Vaterland» mit grösserer Wärme singen hören.»