Schiessunglück vom 7. September 1944

Hans Maag hat im FWK-Magazin Puzzle folgende Erinnerungen publiziert: 

Anfangs September 1944 ereignete sich im Rahmen der Artillerie-Offiziersschule 44 in Andermatt ein schweres Unglück beim Schiessen mit Panzerturmgeschützen. Wie die Untersuchung zeigte, waren Weisungen missachtet worden. Bilanz dieses traurigen Unglücks: 8 Tote und 5 Schwerverletzte. Betroffene und Augenzeugen berichten.

Am 7. September 1944 fuhren die 3 Klassen Festungsartillerie-Offiziersaspiranten der Art OS 44 von Andermatt zum Werk Bäzberg hinauf. Die Schiesskommandoposten wurden unweit der Panzergeschütztürme auf der Abdeckung eingerichtet.

Die zu jener Zeit im Aktivdienst befindliche Fest Art Kp 17 und die Festungswachtkompanie Andermatt stellten die Geschützmannschaften für zwei 12 cm-Geschütztürme. In jeden Turm wurden ein Of-Aspirant als Ci-Geschützführer sowie der Klassenlehrer-Assistent als Instruktions-Of befohlen.

Als einziger Deutschschweizer der welschen Klasse von Hptm i Gst De Weck und Assistent  Lt Lebet wurde ich als Geschützführer  im Turm 2 eingesetzt.

Vor Beginn des Schiessens las Lt Lebet das Reglement für dieses Geschütz vor. Ich erinnere mich noch genau, dass er mit Nachdruck befahl, vor jedem Schliessen des Querkeilverschlusses zu kontrollieren, ob der Kupferdichtungsring (sog. Liderungsring) richtig in seiner Versatzung sass. Ferner befahl er gemäss Reglement, dass auf dem Bedienungsboden (obere Etage des drehbaren Turms) nur die Pulversäcke für einen Schuss liegen dürfen. Der Ladungsvorrat für die Schiessübung musste in der unteren Turmetage bereit liegen. Die Gefahr wegen der Empfindlichkeit des Liderungsringes war bekannt

Um 10 Uhr begann das Schiessen. In unserem Turm verlief alles normal. Um ca 10.30 Uhr erhielten wir vom Kommandoposten telefonisch den Befehl nachzuschauen, warum vom Turm 1 keine Antwort mehr komme,  zudem habe der letzte Schuss von Turm 1 die untere Sicherheitsgrenze unterschritten. Lt Lebet brach das Schiessen in unseren Turm ab und schickte mich mit einem FW-Soldaten zum Turm 1.

Unten im Querstollen angekommen waren wir vom Pulverrauch umgeben und konnten deshalb nicht zum Turm 1 hinauf. Wir suchten sofort die Fortwache, welche aber bereits alarmiert war, durch die aus dem Unglücksturm geflüchteten Verletzten.

Die Fortwache, mit Kreislaufgeräten ausgerüstet, konnte nur noch Tote bergen. Als unsere Turmbesatzung endlich zum Ausgang gelangte, lagen dort 7 Opfer, während 6 Verletzte mit dem Lastwagen zum Militärspital Andermatt unterwegs waren.

Mein Kamerad, Aspirant Bruno Müller, schildert, wie er und der FW-Soldat Walker, beide schwerst verletzt, als einzige der Besatzung auf dem oberen Turmboden das Unglück überlebten: «Ich kam soeben vom KP als Geschützführerablösung in den Turm 1. Noch hatte ich meine Charge nicht übernommen, als es gewaltig knallte. Pulverdampf überall, unsägliche Hitze, Feuerinferno, Kreischen und Schreien und dann absolute Dunkelheit. Was war geschehen? Offenbar musste der kupferne Liderungsring beim Setzen der Granate oder beim Schliessen des Verschlusses aus seinem Sitz gefallen sein (von der Untersuchungskommission bestätigt), ohne dass es jemand bemerkte. Zwischen Keilwand und Verschluss klaffte ein Spalt, aus dem beim Abschuss ein Teil der Ladung entwich und den direkt neben dem Geschütz liegenden Pulversackvorrat zur Explosion brachte. Ich stand unmittelbar neben den Pulversäcken. Nur ein Gedanke durchfuhr mich: Hinaus aus dieser Hölle, aber wie? Am Boden liegend ertastete ich eine Lücke im Holzboden, die der gewaltige Explosionsdruck offenbar aufgerissen hatte. Dies war meine Rettung! Ich zwängte mich hindurch und stürzte auf den unteren Boden hinunter, suchte den Weg zur Treppe und rutschte die vielen Stufen hinunter in den Quergang zum Telefon, wo bereits Walker stand, der ebenfalls dem Feuerinferno entkommen war.

Wir meldeten das Unglück nach Andermatt. Erst draussen im Freien beim gegenseitigen Anblick realisierten wir das schreckliche Geschehnis und die grausamen Schmerzen der Verbrennungen 3. Grades an Gesicht und Händen. Irgendwie musste der enorme Luftdruck für kurze Zeit unsere Atemwege unterbunden haben, so dass relativ wenig Kohlenmonoxyd eindringen konnte und wir das Bewusstsein nicht verloren haben (CO-Vergiftung war die Todesursache unserer Kameraden!).»

Was dann während der nächsten Woche im Militärspital folgte, waren grausame Qualen, ein Ringen mit dem Tod, das ich dank guter Gesundheit überstand. Länger als 2 Monate wurde ich in Andermatt mehr oder weniger behelfsmässig von den jeweiligen Truppenärzten, aber leider nicht von Spezialisten, behandelt. Für einen Transport ins Unterland standen damals weder Helikopter noch Auto zur Verfügung, so dass ich erst gegen Weihnachten per SBB nach Winterthur gefahren werden konnte.

In 43 langwierigen plastisch-chirurgischen Eingriffen –die Transplantationschirurgie stand damals in der Schweiz noch in den Kinderschuhen – wurden die Schäden an Stim, Schädel, Nase, Augenlidern, Lippen und Händen im Verlauf von 3 Jahren einigermassen «geflickt», so dass ich wenigstens wieder ein menschliches Aussehen bekam. Dass dann aber vor allem psychische Probleme zu überwinden waren, dürfte einleuchten; ein neues Leben muss beginnen und gemeistert werden.

Dass mir dies gelang, verdanke ich meiner tapferen Mutter und später meiner Frau, dem Winterthurer Chefarzt Professor Schürch (Pionier der WiederherstelIungschirurgie in der Schweiz), den Schulkommandanten Maurer und Mamin (ich beendete ein Jahr später während eines Spitalurlaubes die Offiziersschule).

Alle Militärdienste nach dem Unglück leistete ich als Freiwilliger. Bis zum Übertritt in den Munitionsdienst im Landsturmalter war ich insofern privilegiert, als ich keinen Geschützdienst mehr zu leisten hatte, sondern immer als Schiesskommandant in freier Natur unserer Berge eingesetzt wurde (Fest Art Kp 25 – Grimsel).

Zurück zum niederschmetternden Ereignis: Am 9. September 1944 fand vor der Kaserne Altkirch in Andermatt die ergreifende militärische Trauerfeier statt. Vor uns lagen 7 mit der Schweizerfahne bedeckte Särge. Unter den Trauergästen befanden sich der damalige Artilleriechef Divisionär de Montmollin und unser Schulkommandant Oberst Maurer, späterer Artilleriechef. Die Traueransprache hielt Hptm Habicht, Feldprediger Stab 3. AK. Das Totengebet und die Feldmesse las Hptm Gnos, Feldprediger Stab Geb Inf Rgt 12.

Nach dem Bataillonsspiel «Ich hatt› einen Kameraden» läuteten die Glocken beider Kirchen von Andermatt, während die Särge auf Militärfahrzeuge zur Überführung in die Wohngemeinden verladen wurden.

Die Opfer dieses schweren Unglückes waren:

  • Lt Albertin Othmar
  • Of-Asp Hauser Walter
  • Kan Sameli Arthur
  • Mitr Schnyder Alfred
  • Kan Kunz Emil
  • Tf Sdt Scheurer Otto
  • FW Sdt Lehmann Hans
  • Kan Steinemann Oskar (einige Tage später im Spital Andermatt verstorben).

Am 9. September 1994, auf den Tag genau 50 Jahre nach der Trauerfeier, trafen wir ehemalige Offiziere der damaligen Klasse uns um 17 Uhr beim Kdo des Festungskreises 23 in Andermatt, von wo wir mit Fahrzeugen zum Werk Bäzberg dislozierten zur kurzen Gedenkfeier für die verunglückten Wehrmänner, im Beisein einer Delegation des Fest Kr 23 und eines Feldpredigers.