Explosionskatastrophe in Mitholz – noch immer aktuell

Update 30. Juni 2018: Das VBS hat informiert, das im Zusammenhang mit einem geplanten Rechenzentrum des Bundes in der Anlage Mitholz (1051 AA) eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde. Dabei kamen die Experten zum Schluss, dass das Risiko einer erneuten Explosion im ehemaligen Munitionslager höher sei als bisher bekannt. Während die eigentlichen Lagerstollen ausgeräumt, ausgebaut und für die Armeeapotheke genutzt wurden, blieb der frühere Bahn-Verladestollen mit Schutt, Trümmern und Munition gefüllt. Nun wurde sofort die Truppenunterkunft geschlossen und das Lager wird ausgeräumt. Gemäss VBS sind keine Sofortmassnahmen für die Bevölkerung, die Bahn und die Strasse nötig. Eine Arbeitsgruppe klärt ab, was mit den gegen 3500 Tonnen Munition, die in diesem Verladetunnel sowie im Schuttkegel vor der Anlage vermutet werden, passieren soll. Die lokalen Behörden fordern eine Räumung der Altlasten, was wohl nur mit Hilfe von Robotern erledigt werden kann. Aktuell sind dazu aber noch viele Fragen offen. Auch die Experten sind ratlos, da es in ganz Europa keine vergleichbare Situation wie in Mitholz gebe.

Ein Augenschein vor Ort in diesem Tunnel zeigt frei herumliegende angerostete Fliegerbomben, Granaten und Zünder. Teilweise ist die Munition zwischen Felsen eingeklemmt oder mit Schutt überdeckt. Von der Decke des Gewölbes drohen Felsen und Steine herunterzufallen, was im schlimmsten Fall zu Explosionen führen könnte.

Wie ernst die Behörden und die Landesregierung diese Angelegenheit nehmen, zeigt der Auftritt von VBS-Chef Guy Parmelin, der selber die lokale Bevölkerung über die neue Beurteilung des Risikos gemäss dem vorliegenden Zwischenbericht informierte.

Die Anlage Mitholz wurde mittlerweile entklassifiziert, Informationen darüber dürfen also veröffentlicht werden. Offizielle Unterlagen gibt es unter www.vbs.ch/mitholz

Weitere aktuelle Beiträge dazu sind im BLOG zu finden (Stichwort Mitholz).

Aktuell läuft die Arbeit an einem Buch über dieses verheerende Ereignis. Wer sich dafür interessiert, kann sich für den Newsletter des Verlages HS-Publikationen anmelden (Besitzer dieser Website) und erhält weitere Infos, sobald klar ist, wann das Buch erscheint. Die Mailadressen werden nur Verlagsintern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben!

Plan der unteren Etage der Anlage mit den Lagerstollen. © AL

Die Erinnerung ist immer noch wach: Vor knapp 70 Jahren – in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947 – explodierte das riesige Munitionsmagazin in Mitholz. Dutzende zerstörte Häuser, mehrere Verletzte und neun Todesopfer waren die Folge. Die Frage nach der Ursache stellt sich bis heute.

Der nachfolgende Text erschien erstmals am 5. Dezember 2017 im «Frutigländer» (Autor Hans Rudolf Schneider).

«‹Furt – furt – furt, wier müesse-nä-wägg süscht ga-wer ali kaputt, pressierät, pressierät ä-wäg ä-wägg va hie.› Wir Kinder, Änni (7), Regina (9) und ich (10), stolpern die steinerne Haustreppe hinab ins Freie, hinaus in den heftigen Schneefall, das ganze Tal ist voller Feuer, Rauch, Gestank, Schnee, Blitze, Donner und Geschrei.» Ältere Mitholzer erinnern sich noch heute, wie sie als Kinder mitten in der Nacht mit ihren Eltern und Angehörigen talauswärts flohen. Die Erinnerung an die Schreckensnacht mitten im Winter 1947 lässt sie nicht los, sie gehört zur Familiengeschichte, wie verschiedene Briefe und schriftliche Berichte – hier von Samuel Trachsel, dem Vater des heutigen Kandergrunder Gemeindeschreibers Martin Trachsel – zeigen.

«Jedesmal, wenn grelle Blitze die gespenstisch wirkende Landschaft erhellen, versuchen wir uns in die nächste erreichbare Deckung, und an solchen fehlt es zu unserem Glück nicht, zu werfen, nur das herauskommen aus den oft recht tiefen Löchern ist bei diesem vielen Schnee nicht ganz einfach. Bei einem solchen Manöver bleibt mein rechter Schuh tief unten in einem solchen Bütschiloch hängen. Vergebens versuche ich den verlorenen Schuh zu finden, und so muss ich die weitere Flucht halt ohne den rechten Schuh fortsetzen.» Samuel Trachsel und seine Fluchtgruppe stolperten durch die Nacht talauswärts. Andere folgten später ihren Spuren, um sich zu retten. «Um Strümpfe oder Socken anzuziehen hatte ich in der Hektik des Aufbruches keine Zeit, so musste ich den Weiterweg durch den kalten Schnee barfüssig bewältigen.»

«Wir erwachten auf einmal alle von einem furchtbaren Beben und beim Stollen war ein riesiges Feuer, das Du Dir nicht vorstellen kannst. Vater sagte sofort anziehen und fort. Nach einer Weile gab es einen zweiten und noch festeren Stoss. Da schlug es Türe und Fenster ein … Bis fast zur Felsenburg ging es gut. Aber dort wurde es taghell und man hörte wieder Krachen. In der Luft kamen glühende Granaten und Bomben zu fliegen. Wir lagen an der Mauer bei Hess nieder und die Geschosse flogen hart über uns.» Diese eindrückliche Beschreibung stammt von Vreni Brügger, geschrieben in einem Brief am 28. Dezember 1947. Gegen 200 Bewohner wurden in dieser Nacht obdachlos, der Schnee und die eisigen Temperaturen verschärften die Situation für die Betroffenen zudem noch.

Nach der Explosion wird der hintere Verbindungsgang mit dem Schlauchboot erkundet.

«Oh dieser arme Künzis Sami, er hat die Mutter verloren, 2 Kinder, Sameli und Luiseli, und mit dem Anneliseli ist die Luise zum Fenster hinaus gesprungen und ist so verletzt ins Spital, dass man von ihrem Aufkommen zweifelt. Was ich bis jetzt weiss, sind es 9 Tote.» In diesem Brief vom 21. Dezember wird brutal aufgezeigt, welches Leid die Explosion nach Mitholz gebracht hat. «Du kannst es Dir kaum vorstellen, wie es in Mitholz aussieht. Kein einziges Haus ist ganz geblieben. Was nicht verbrannt ist, hat der Luftdruck und die Schüsse zerschlagen. Künzi Gritis Fritz Haus und Künzi Samis Haus, auch Hari Samis an der Strasse, sind verbrannt. Herr Tschumi und sein Sohn sind auch unter den Toten und die Frau ist schwer verletzt auch im Spital. Der treue Gott hat uns wieder wunderbar behütet, indem er ziemlich viel hat schneien lassen. Wir müssen diesen Brief nach Kandersteg bringen, weil die Post in Mitholz nicht mehr funktioniert.» 39 Häuser wurden vollständig zerstört, 61 teilweise. Neun Todesopfer waren in Mitholz zu beklagen: Bahnhofvorstand Hans Tschumi und sein Sohn Hansueli, Anlagewart Karl Kast und seine Frau Verena, Annelisi Künzi und ihre Grosskinder Luise und Samuel, Christian Künzi sowie Marie Trachsel. Für die Mitholzer mussten rasch Notunterkünfte gefunden werden, ebenso Ställe für die Tiere. Verwandte und Bekannte halfen einander, wo immer möglich. Der Schulunterricht wurde provisorisch organisiert.

Im Frühjahr 1948 stellte das Militär Baracken auf, in denen die Familien unterkamen. Auch eine Wirtschaft, eine Post und zwei Läden wurden eingerichtet. Eine Solidaritätswelle ergriff das Land, um den Geschädigten mit dem Notwendigsten zu helfen. Auch die frisch gegründete Glückskette kam zum Einsatz. Eduard Kleinjenni, der damalige Gemeindepräsident, schrieb dazu: «Die Aufforderung in den Medien blieb nicht unbeachtet, denn schon kurz darauf wurden hier in Kandergrund auf der Station eine Unmenge Pakete an einen Walm von 25 bis 30 Metern Länge, alle an den Gemeindepräsidenten von Blausee-Mitholz ob Frutigen adressiert, ausgeladen.» Das Dorf wurde in der Folge wieder aufgebaut. Deshalb haben etliche Gebäude heute dieselbe Jahrzahl und entsprechende Hausinschriften eingeschnitzt.

Die Schadensumme betrug inklusive Magazin, Bahn, Strasse und Gebäude rund 100 Millionen Franken. Kleinjenni tat sein Möglichstes, um die Lage zu verbessern. Er musste aber auch geradestehen für die Vorwürfe, der Gemeinderat habe seine Kompetenzen überschritten und öffentliche Gelder zweckentfremdet und die gespendeten Liebesgaben ungerecht verteilt – dies blieb ohne Folgen für die Gemeinde. Er setzte sich auch erfolgreich bei der Gebäudeversicherung dafür ein, dass den Mitholzern der Neuanschaffungswert und nicht nur der Zustandswert vergütet wurde. Sogar der Regierungsrat erliess einen scharfen Verweis wegen der raschen Auszahlung von Sammelgeld an Geschädigte. Kleinjenni schreibt in seinem Bericht dazu lakonisch: «Dies kam für uns gar nicht unerwartet, wir trösteten uns damit, dass die Leute jetzt das Geld und wir den Verweis hatten.»

Der Wiederaufbau von Mitholz dauerte rund zwei Jahre. Eine Abwanderung von Anwohnern war nicht festzustellen. Die abgesprengte Fluh verwitterte immer mehr, die Steinwüste unter der Fluh wurde langsam von Gestrüpp überwuchert. Doch die Erinnerung an das tragische Unglück verblasst bis heute nicht …

Die Geschehnisse im Überblick

Mit dem Bezug des Reduits, der Verteidigungsstellung in den Alpen, mussten dort Vorräte für die Armee gelagert werden. In Mitholz wurde zwischen Oktober 1941 und Juli 1945 ein grosses Munitionsmagazin mit sechs Kammern und Bahnanschluss erstellt. Die 150 Meter langen Lagerstollen in der «Fluh» wurden mit Munition verschiedener Kaliber gefüllt. Aus den Akten geht hervor, dass es dort auch bombensichere Kriegswerkstätten gab, dies ist aber nicht bestätigt. In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947 gegen 23.45 Uhr gab es die ersten Explosionen, Rauchwolken stiegen über der Fluh auf, deren Vorderseite zusammenfiel. Rund 3000 der eingelagerten 7000 Tonnen Munition flogen in die Luft, heisst es in den Akten. Noch tagelang hörte man Detonationen, und die Aufräumarbeiten waren äusserst gefährlich. Insgesamt wurden bis Ende 1948 477’382 Geschosse ab Kaliber 20 Millimeter in und um das Munitionsmagazin zusammengeräumt – und 1400 Tonnen davon im Thunersee versenkt. Auch heute ist bei Bauarbeiten vor der Fluh noch Vorsicht angebracht. Während der militärischen Untersuchung wurden allerlei mögliche Gründe diskutiert und abgeklärt. Diese reichten von Sabotage über fehlerhaften Umgang mit der Munition, Erschütterungen durch vorbeifahrende Güterzüge bis zur Strahlung aus dem All.

Die Katastrophe ereignete sich nur eineinhalb Jahre nach einem ähnlichen Ereignis bei Saint-Maurice, wo am 28. Mai 1946 die Explosion von 449 Tonnen Munition grosse Teile der Festung Dailly zerstörte. Die Ursache konnte in beiden Fällen nie definitiv ermittelt werden. Als wahrscheinlichster Grund ist die Bildung von schlagempfindlichem Kupferazid auf Granatenzündern sowie dessen Selbstentzündung aufgeführt. Die Folge war, dass keine solch grossen Munitionslager mehr erstellt wurden – und keinesfalls die Zugangsstollen in Richtung benachbarter Ortschaften zeigen durften. Die explodierte Anlage in Mitholz wurde später von der Armee für Sanitätsdienste (Spital/Medikamentenproduktion) umgebaut.

 

Die Fluh von Mitholz nach der Explosion, im Vordergrund die zerstörten Wohnhäuser.

Übersicht von Ost-Nordost (20.7.1947) © ETHZ-Archiv

6 Kommentare
  1. Rudolf Zbären
    Rudolf Zbären sagte:

    Guten Morgen
    Es ist mir einfach unerklärlich wer diese Baubewilligungen gegeben hatte um dort zu Bauen?
    Ihr Mittholzer habt ja den Auftrag gegeben um diesen Stollen zu Räumen trotz dem habt ihr gebaut, nun habt ihr das Resultat.
    Im übrigen wird dieser Stollen auch nicht Explodieren, wer gibt den euch die Garantie das er nicht Morgen oder nächste Woche Explodiert niemand. Im Kanton Uri sind hunderte dieser Stollen niemand mach so ein Theater.
    10Jahre sind sowieso zu lange oder wird da nur eine Bombe pro Jahr herausgenommen?
    MFG:
    R.Zbären

    Antworten
    • Stefan Imhof
      Stefan Imhof sagte:

      Lieber Herr Zbären,

      also zum einen sind in Kanton Uri sicher nicht hunderte solcher Stollen vorhanden, vorallem nicht welche in der Situation der Anlage Mitholz, dass gleich mal vorab. Grosse Munitionslager gabe es ohnehin nur wenige.

      Der Bund als Betreiber der Anlage steht in der Verantwortung, unabhängig davon ob die Anlage mit alter Munition verseucht ist oder nicht. HInzukommt, dass man es mit den genauen Umständen in und um die Anlage Mitholz eine ganze Zeitlang nicht so genau genommen hat und das Militär gehört jetzt auch nicht zu den Institutionen welche sehr freizügig mit Informationen umgehen, selbst dann nicht wenn das Offensichtliche nicht mehr unter den Teppichgekehrt werden kann.

      Jetzt quasi den Mitholzern zu sagen «selber schuld» ist jetzt nicht undbeding besonders nett, gerade im Hinblick das viele Informationen einfach klassifiziert wurden weil die Armee selber nur ungenügendes Wissen über die geborgenen Munitionsmengen ausgewisen hat.

      Viele Grüsse aus der Nordschweiz,

      S:Imhof

      Antworten
    • Werner Stauffacher
      Werner Stauffacher sagte:

      Werter Herr Zbären,

      Bitte suchen Sie sich doch eine andere Seite um zu trollen.
      Youtube oder vielleicht Bild online dürften eher ihrem «niveau» entsprechen.

      Mal ehrlich haben Sie den Text überhaupt gelesen?
      Oder mangelt es Ihnen ausser an Respekt auch am Leseverständnis?

      Antworten
    • Ernst Wagner
      Ernst Wagner sagte:

      Sehr geehrter Herr Zbären.
      Mir ist bewusst das Ihr schreiben schon länger her ist.
      Leider bemerke ich, dass Sie so gut wie keine Ahnung haben und hier Leuten Sachen unterstellen die nie so waren.
      Haben Sie wirklich das Gefühl, dass es für diesen Bau jemals eine Baubewilligung gegeben hat?
      Das selbe gilt auch für die Räumung. Im Kanton Uri sind sicher nicht 100 dieser Stollen vorhanden (nicht in dieser Grösse). Desweitern hat es in Uri nie ein solches Unglück gegeben. Und von wo Wissen Sie, das es «Nur» 10 Bomben hat?
      Bitte Informieren Sie sich zukünftig besser, bevor Sie solches Unwissen verbreiten.
      Besten Dank
      E. Wagner

      Antworten
  2. Stefan Imhof
    Stefan Imhof sagte:

    Nun ist es da, dieses tolle Buch über die Schreckensnacht von Mittholz. Es ist äusserst lesenswert und beleuchtet viele Aspekte. Ich kann nur sagen, herzlichen Dank dafür und auch dafür das ich einen kleinen Teil dazu beitragen durfte.

    Es ist wirklich toll das sich jemand soviel Zeit genommen hat undin akribischer Detailarbeit all die kleinen Puzzleteile zu einem Bild über ein Ereigniss zusammen zu fügen welches vor über 70 Jahren stattgefunden hat.

    Lieber Hansruedi,

    merci vielmals und mit den besten Grüssen,

    Stefan.. 🙂

    Antworten
  3. Stefan Imhof
    Stefan Imhof sagte:

    Ich habe in besagter Produktionsanlage Dienst gemacht als technisches Personal. Die „neue“ Anlage bietet in einer der Seitenkavernen einen Zugang in den alten Stollen. Dort kann man heute noch die verbogenen Schienen sehen und haufenweise verrottende Munitionsreste. Es war nicht möglich die alte Anlage frei zu räumen da die Gefahr von erneuten Explosionen viel zu gross gewesen wäre. Trotz der des Gruselns in der alten Kaverne habe nur wenige Meter davon entfernt im Unterkunftsteil stets gut geschlafen.

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